Gedichte und Haikus
Was Gedichte betrifft, so sind fast alle Texte im Rahmen von LIT (Literatur in Tempelhof) vorgetragen, besprochen und manchmal öffentlich gelesen worden. Die Haikus sind zu einem großen Teil streng nach dem 5 - 7 - 5 Silbenschema verfasst worden. Einige ältere (Zazen - Splitter) folgen jedoch dieser Vorgabe nicht.
Saporischschja
Der Wind in Tschernobyl
streicht über den Sarkophag,
den wir alle bezahlt haben.
Im Jahr 2013 kam ich auf dem Dnjepr
am Atomkraftwerk Saporischschja vorbei
und ein Grauen verdüsterte das friedliche Bild.
Zwei Jahre zuvor bewirkte Fukushima
bei uns den langsamen Atomausstieg.
Welches kranke Hirn kann das vergessen,
nach nur einem Jahrzehnt und für
die elektrischen Heizlüfter in Kriegszeiten
die Laufzeitverlängerung fordern?
Was, wenn Putin in Kaliningrad „aus Versehen“
die Hyperschallrakete „Kinschal“ auf Isar 2 abfeuert?
Kann man den Strahlentod so schnell verdrängen,
wenn aktuell Granaten um 300 m
Saporischschjas Reaktor verfehlen?
Sieht denn niemand die Möwe,
die im Wind schwarz vom Himmel fällt?
24. September 2022
Haikus vom Rand des Indischen Ozeans
Singapur Gardens by the Bay
Im Cloud Forest das
Glashaus mit tropischem Wuchs:
Grüne Geisterbahn!
Singapur II
Das Geheimnis der
Stadt: Extreme Sauberkeit.
„It’s a fine City“ *
* fine (engl.) fein; Geldstrafe
Petronas Twin Towers
Kuala Lumpurs
Doppeltürme mit Brücke:
James Bond gerade weg!
Mount Lavinia Hotel Colombo
Kolonialbau
der Briten mit tollem Meerstrand –
Wellen hauen um!
Kochi Indien
Vasco da Gama
War hier beerdigt, später
lieber Lissabon!
Mumbai/Bombay
„Gateway to India“,
aber nur nach Überwindung
der Bürokratie
Laotische Haikus(2022)
Mekong
Stromschnellen mit Fels,
Flusskreuzfahrten werden zum
Abenteuertrip!
Bettelmönche
Spenden bringt Segen:
Frauen verteilen Klebereis
dankbar in Schalen.
Pho That Luang
Der Stupa im Wappen
ersetzt den Sowjetstern und
hält den Buddha hoch.
Nachtmarkt
Mit tausenden KIP
Laossuppe und Nudeln:
Preiswertes Essen.
Vat Xieng Thong
Mann und Frau in Tracht,
Hochzeitseinladungsfoto,
das Ziel des Aufwands.
Pak Ou Höhlen
Das Volk opferte
früher Buddhafiguren.
Heute wird geklaut!
Zazen - Splitter
Zen - Garten
Nasser Schnee beugt Bambushalme.
Die Stimme des Granitbrunnens ist erstarrt,
da sucht die kleine Meise den Schutz der Efeuwand.
Oktoberende
Im Lotussitz
meditiere ich.
Wildgänse schreien nach Süden.
Atemübung
Räucherkerzenqualm kräuselt in meine Nase.
Der süße, fremde Duft
reißt Gestern und Morgen mit davon.
Leere des Nichts
Versunken in den Tiefen des Selbst.
Wirf Dein Ich hinter Dich,
wartend auf die Leere des Nichts!
Kleine Wächter
Löwen? Hunde? Löwenhunde?
Grimmig sichern sie den Schrein.
Gut, dass Siddhartha Gautama keines Schutzes bedarf!
Weg zur Arbeit
Die Stimme der Klangschale verstummt,
die Räucherkerze verglommen;
Regen peitscht mein Gesicht.
Versunken
Oh Du Juwel im Lotussitz,
wie unvollkommen
ersitze ich Deinen Weg!
Eisenbahnhalle (Kreuzberg 1990)
Über der dunkelrot restaurierten Hallenfassade
der gleichfarbige Stadtbär.
Hinter der vollautomatischen Glastür
ein westernbehüteter Gitarrenspieler -
erbittet Kleingeld wie das Pärchen
am anderen Eingang:
Röhrenhosen, Armeestiefel, Ohrringe -
das nichtgeschorene Resthaar fahlrosa.
Etwa von den großäugigen Ostlern,
Alditüte links, Stoffbeutel rechts und
immer auf dem Sprung nach letzten Westschnäppchen?
Der alte Türke sprengt den Hallenboden
auch im Ramadan mit der Gießkanne
zum Breitbesenfegen wie vor dem Gebet
und wird gleich die von unzähligen
Riesenkötern bepissten Eingangsecken wässern.
Am Imbissstand kauen zum Bier
derweil Gerüstbauer und Klempner
an Bratkartoffeln mit Leberkäs
neben der grausträhnigen Alten,
die unbeherzt nach einem Gesprächspartner fahndet.
Es ist Freitagmittag in der Kreuzberger Eisenbahnhalle
und das Fischhändlerehepaar freut sich ebenso
wie die vom Rathaus rückströmenden Herren mit der Stütze:
Am Lebensmittelstand begleichen sie das Angeschriebene
und krönen den Tag mit einer Flasche Einfachkorn!
Fercher Zen-Garten
Fercher Zen-Garten
Geharktes Kieseck.
Moos und Steine – Tiefe dort.
Was sieht das Pärchen?
Der Koiteich
Kieferninsel mit
Steinbrücke, Kois im Algenteich,
rot-weiß von unten!
Die Gartenbank
Hinter drei Kiefern
grüne Kugelbüsche und
falsche Schneeflächen?
Japanischer Pavillon
Das Dach sehr schwungvoll,
der Rest bleibt dafür so starr,
bis auf die Karpfen!
Gartenflash
Chrysanthemen, die
kaiserlichen Blüten, sie
flashen die Leere.
In den Marzahner Gärten der Welt
Chinesischer Garten
Bambus und Steine,
zackige Brücken lassen
die Geister stolpern.
Japanischer Garten
Ein Trockengarten,
geharkte Linienführung –
was ist im Regen?
Balinesischer Garten
Orchideenknall
in feuchtwarmen Lüften.
Brillenputztrockner.
Koreanischer Garten
Dachziegelenden
aus schwarzem Lehm, wo sind
Kimchitonkrüge?
Orientgarten
Maurische Fliesen.
Soviel prachtvolle Schönheit -
ohne ein Kopftuch!
Irrgarten
Irrgartenversuch:
Hohe Büsche lachen die
Verzweiflung kaputt!
Reise-Haikus
Chinareise (2012)
Am Li-Fluss
Schnell gleiten Boote
durch Schluchten und Stromschnellen.
Schiffsbodensteinschlag.
Mondfest in Wuhan
Mondkuchen gespeist,
dann zehn Mio. in der City,
in der Hand Smartphones.
Lichterstadt Shanghai
Grelle Boote vor
grellbunten Türmen am Fluss.
Der Bund bleibt klassisch!
Xi’ans Terrakottaarmee
Soldaten, Pferde
in langen Reihen erdig.
Blieben sie einzig!
An der Großen Mauer
Wer Mauern baut hat
Angst vor Nachbarn und Wandel.
Vor allem China!
Tian‘ anmen-Platz des Himmlischen Friedens
Verstummt sind sie jetzt:
Kreischende Panzerketten.
Erinnere Dich!
In der Verbotenen Stadt Beijings
Soldat überwacht
Hallen der Harmonie.
Wie kann das gehen?
Istanbul Haikus (2013)
Istanbul alkoholsüzdür
Moscheen in Schuss,
Bierkneipen werden rarer:
Atatürk brummt schon!
Bagdad Pavillion
Topkapi Serail,
Ampeln, Fliesen und Perlmutt.
Volk nur weit entfernt!
Rüstem Pascha Moschee
Kuppeln, Emporen,
Fliesen lobpreisen Allah.
Rüstem ein Schurke!
Auf der Galatabrücke
Am Goldenen Horn
ködern Angler die Fische.
Unten Fischbrötchen.
Großer Basar
Bemalte Gewölbe,
tausend Stände für Touris:
Kein Preis zu lesen!
Zisterne „Versunkener Palast“
Medusenhäupter
erschrecken im Säulenwald.
Karpfen sind angstfrei!
Ostsee-Haikus (2015)
Lübeck
Roter Ziegelstein
bei Manns- und Grass-Museum.
Marzipan hilft.
Stockholmer Schärengarten
Sommerhaus rot-weiß
auf blanken Granitfelsen:
Badender bibbert.
Tallin
Altes Rundpflaster
unter tausenden Touris:
Schiffshörner rufen!
St. Petersburg
Aurora im Dock.
Braut vor der Newa verlacht
die Rubelschwäche.
Helsinki
Vor dem weißen Dom
des Berliner Engel: Zar
Alexander II.
Kreta - Haikus (2016)
Kreta
Du Insel des Zeus,
Deine Freiheit kam sehr spät!
Dein Öl: Das Beste!
Heraklion
Auf der Stadtmauer,
Kazantzakis Grab ermahnt:
„Freiheit oder Tod!“
Knossos
Labyrinthpalast:
Ich suche Ariadne
und Minotaurus.
Ex-Jugoslawien - Haikus (2016)
Diokletianpalast
In Split befahl der
Kaiser alle Eier her -
für seinen Mörtel.
Mostar
Moschee und Kirche
kaputt wie die Brückenpracht
1993 – jetzt wieder heil!
Ragusa
Touristen putzen
die Hauptstraße täglich blank.
Stadtmauern schweigen.
Kotor
Am Ende der Bucht
wartend mit hohen Mauern -
auf das Erdbeben.
Südafrika-Haikus (2017)
Nelson in Pretoria
Neun Meter Denkmal,
die Arme ausgebreitet,
doch nicht für Winnie!
Südafrika
Auf zum Tafelberg!
Der Kapstadtblick vernebelt,
Klippschliefer so nah!
Kruger National Park I
Leopard im Baum,
Impalafrühstück über ihm.
Wie kam es da hin?
Kruger National Park II
Kleiner Elefant
rüsselt neugierig am Jeep.
Leitkuh außer sich!
Kruger National Park III
Krokodil im Fluss,
döst lächelnd und träumt vielleicht
von den Impalas!
Cape of good Hope
Unter dem Felsen
warmer Strom trifft kalten.
Leuchtturm im Nebel!
Chinatouristik
Die Chinesen, statt
Nashörner amputieren
lieber sich „selfien“!
Hippy Insel Ibiza 2017
Ibiza Hippy Markt
Bleiche Touristen
kaufen Selbstgemachtes und
Made in India
Ibiza Hippy Strand
Unter Bikinis
tauchen braune Alte auf
und werden ganz nackt.
Ibiza Hippy Leben
Eivissas Partys
bekifft betanzt von Enkeln
der Hippy Omas.
Norwegen Haikus (2019)
Nordkap
Felsen und Kugel,
alle selfien wild im Sturm.
Nebel verschluckt sie.
Geirangerfjord
Riesenschiff zwischen
Felsenwänden! Wasserfälle
vom Gletschersterben.
Dom zu Trondheim
Königslege seit
Olav. Westfassadenpracht,
Eintritt zu teuer.
Stavanger
Bunte Holzhäuschen,
Kreuzfahrer überragen:
Nur vier Gastschiffe.
Hurtigruten
Postschiff, Komfortkahn,
bei jedem Wetter im Plan.
Getränk zu teuer!
Ein Gleichnis
Limburg und Bischof,
oh, der Duft seines Käses
stinkt stark zum Himmel!
Federung
Im Nest die Amsel:
Müsame Fütterungen.
Der Kater federt!
Tarokoschlucht, Taiwan
Rote Brücke in
der Marmorschlucht, ein Taifun
verschiebt sie ums Eck!
Erfolg
Am Ende
eines gelungenen Gedichtes:
Missbilligend verbreitet sich Ratlosigkeit!
Kurzschluss
Kurz‑Geschichten‑Schluss:
Beim letzten Lachen
dem Leser
den Widerhaken
in den Mund
gleiten lassen.
Ach Gott, wie kitschig!
Nachtigallengesang? Ach Gott, wie kitschig!
Aber sie singt, direkt vor meiner Tür!
Im Mai, in lauen Nächten,
variationsreich, melodisch, anrührend.
Alles wehrt sich in mir,
gegen diesen Angriff des Romantischen -
dem ich glatt erliege: Wie wundervoll!
Eigentlich hat sie die Stadt schon vertrieben,
es sind nur noch Spatzen, Meisen und Amseln,
als Zivilisationsresistente übrig,
aber Nachtigallen? Ausgeschlossen!
Das wird es
sein, das Glück.
Halte inne, lausche!
Schäme dich deiner Tränen nicht,
mehr wird dir das Leben
nicht und niemals bieten können!
Kloster Chorin
Im Rückspiegel zerfließt die graue Stadt zwischen gepfeilten Achsen der bejahrten Chausseelinden. Hinter der sonnenbefleckten Lichtung alte Feldsteinmauern und mitten Buchen und Eichen das Rot der Ziegelarkaden und Giebel: Chorin ‑ romantischer Gotikruinentraum!
Durch die filigranen Spitzbogenöffnungen dringt der fromme, mehrstimmige Gesang der Laien und Diakonissen von den Chorbänken. Den Klang der Lobpreisungen schluckt das gezimmerte Behelfsdach dort, wo einst das tonnenschwere Kreuzgewölbe mit scheinbarer Leichtigkeit himmelwärtige Unendlichkeit halluzinierte.
Geh dann hinunter zum Amtssee, durchwandere die waldbedeckten Hügel, quere auf der kleinen Brücke den schon getrübten Bach und plötzlich erblickst Du sie wieder, die kunstvoll gemauerte Westfassade, hohe Fensterbögen, schmale Gurte, leichte Türmchen.
Für einige Augenblicke erscheint sie Dir erreichbar, die Einheit von Natur, dem Menschen und seinen Werken, Ziel der Romantik - dann fährst Du im Auto davon!
Konsequent
Die Lehrer der Schule
zeigten sich zunehmend besorgt über die eskalierende Gewalt
in Kreisen ihrer Schuljugend.
Da beschlossen sie
die Durchführung eines
mit Spezialisten besetzten Gewaltseminars im Kollegium.
Für einen Dienstag
schlossen sie ihr Schulhaus ‑
und schickten konsequenterweise
die Jugendlichen auf die Straße.
Das Mauergedicht
Mauersegler
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen!“
Mauerplaner
Mauerstein, Mauerbau, Mauerkrone
Mauerbauer, Mauerwächter, Mauerstreifen
Mauerschütze, Maueropfer, Mauertoter, Mauermord
Brandt! Adenauer?
Maurermeister – Mauerregime
Maueranschlag, Mauerdurchbruch
„Geht doch über die Mauer in den Osten!“
Maueridylle, Mauerbiotop, Mauermentalität
Mauerstaat, Mauerstadt
Stadtmauer
Maueröffnung, Mauerbesetzung
Mauerabriss, Mauersegment, Mauerspecht, Mauerstück
Mauerrest, Mauerdenkmal, Mauermuseum
Mauerschützenprozess
„Die Mauer in den Köpfen muss weg!“
Mauersegler
Traum vom Fliegen
Die Möwe im Wind,
der Passatsegel füllt
und Himmelssprünge trägt –
als er aus Kiew kam,
zerschmolz ihr Gefieder.
Was kann ich halten, wenden?
Was bleibt zu tun,
für einen wie mich,
der kaum sich selbst erklärt?
Das Leben, die Liebe lieben –
Traum des verrußten Selbst –
Traum vom Fliegen,
den Strahlen zu Boden pressen.
Die Möwe im Teer,
der Strände schwärzt
und Lächeln verklebt –
als das Meer sie ausspülte,
starb mit ihr mein Aufwind!
29. April 1986 (Tschernobyl)
Sommer in Berlin
Tiergartenhimmel
Anatolische Griller
drehen Rauchsäulen zum Tiergartenhimmel
- Politiker schelten.
StäV
Kölsch strömt spreenah
durch die „Ständige Vertretung“
- Berliner Sommerkarneval.
Galeries Lafayette
Staubwolken umwirbeln
das „Galeries Lafayette“-Eck
- man verkauft „Scheibenklar“.
Im Rubenshaus
Vor dem Haus des barocken Malerfürsten
in der gotisch übertürmten Scheldestadt
Antwerpen,
die neidabweisend, großbürgerliche Schlichtheit,
inneren Prunk verdeckend, doch erahnend.
Das Atelier dagegen doppelstöckig fürstlich,
mit marmornen Reliefs und antiken Büsten,
wie das Innentor,
das dreiteilig, mit bronzenen Statuen gekrönt,
den Weg zum gepflegten Garten und Pavillion weist.
Peter Paul Rubens, der Lieblingsmaler aller Fürsten
und vielsprachige Diplomat in kriegerischer Zeit,
das Kompositionsgenie,
mit kalkulierten Effekten und sinnenfrohen Szenen:
Er verkaufte selbst den Pfaffen nackte, pralle Weiber
für üppige Altäre.
Transatlantiktörn
Bei der Morgenwache um vier Uhr
am fünfzehnten Tag auf See:
Der andere steht am Ruder
in schwerem Wetter unter Fock und Besan-
ich denke ans Schreiben.
Unser Leben hängt an so vielem,
jetzt vor allem am Lifebelt:
Brustgeschirr mit Nylonseilen
und Karabinerhaken.
Delphine, Wale - in meinem Tagebuch.
Dazu ein springender Schwertfisch
und fliegende Fische, die auf der Flucht
in die Luft gingen und jetzt,
an ihr auf Deck ersticken.
Flauten stehen darin, flappende Segel
auf öliger Dünung und Wüstensonne.
Aber auch die Sturmnacht
in phosphorheller Gischt.
Wieder versuche ich für sechzig Minuten
die 290 am leuchtenden Kompass einzufangen:
Westen
Hörst Du, Freund, den Sound
der karibischen Steelband?
Kolumbus fuhr von den Kanaren
in einundzwanzig Tagen nach Martinique.
- Uns lässt man etwas mehr Zeit.